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Sektion II Wendepunkte: Wann und warum geht der Frieden verloren?
Sektion II
Wendepunkte: Wann und warum geht der Frieden verloren?
Dr. Maria-Elisabeth Brunert, Universität Bonn
Vom Prager Fenstersturz zum Dreißigjährigen Krieg? Stationen auf dem Weg in den „Großen Krieg“ der Frühen Neuzeit
Im letzten Jahr der Westfälischen Friedensverhandlungen, also 1648, sprachen Diplomaten zuerst vom „Dreißigjährigen Krieg“, hielten folglich 1618 für den Beginn des Krieges, um dessen Befriedung sie sich seit 1643 in den Kongressstädten Münster und Osnabrück bemühten. Diese Bezeichnung setzte sich auch in der Historiographie durch. Dadurch gerät aus dem Blickfeld, dass in den Friedensverträgen vom 24. Oktober 1648 der Anfang des Krieges nicht präzise benannt ist. Vielmehr werden Umschreibungen für Kriegsursache und Kriegsbeginn benutzt, die relativ diffus anmuten. So ist in der zeitgenössischen Übersetzung des kaiserlich-schwedischen Friedensvertrags von „Misshelligkeiten und innerliche[n] Kriegs=Empörungen“ die Rede, welche „von langen Jahren hero“ entstanden seien und dermaßen überhand genommen hätten, dass nicht nur ganz Deutschland, sondern auch etliche benachbarte Königreiche, besonders aber Schweden und Frankreich, mit „eingewickelt“ worden seien (1649, aus dem Lateinischen, Präambel des Instrumentum Pacis Osnabrugensis).
Tatsächlich ist während des Kongresses über die Kriegsursachen und damit implizit auch über den Kriegsbeginn kontrovers debattiert worden. Für Österreich bzw. den Kaiser war das „Pfälzische wesen“ der „brunquel aller motuum“ (aller Unruhen), was auf die Annahme der Wahl zum König von Böhmen (26. August 1619) durch Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz zielt. Hingegen hielten die Protestanten die Gravamina (ihre teils schon seit der Reformationszeit bestehenden Beschwerden) für die „vornembste uhrsach und rechte brunquel dieses leidigen, so lang gewärten krieges“ (16. März 1647 im Fürstenrat).
Zumindest in der deutschen Geschichtsschreibung hat sich demgegenüber der schon 1618 durch Flugblätter und seither durch zahllose Abbildungen visualisierte „Prager Fenstersturz“ dreier kaiserlicher Amtsträger am 23. Mai 1618 zwar nicht als Beginn, aber doch als „Auftakt“ der böhmischen Ständerevolte etabliert, die ihrerseits als erste Phase des „Dreißigjährigen Krieges“ gilt (nach Michael Kaiser, 2005). Das dokumentieren nicht zuletzt die publizistischen Gedenkartikel und eine Vielzahl von Veröffentlichungen samt Fernsehdokumentationen des Jahres 2018. Wie verlief die Entwicklung von diesem „Auftakt“ bis zum Einsetzen der Kriegshandlungen, die, militärhistorisch gesehen, einen ersten Höhepunkt in der „Schlacht am Weißen Berg“ (8. November 1620) erreichten? Welche Gegebenheiten, Konstellationen, Mächte und Akteure wirkten kriegsfördernd, welche kriegshemmend? Bei der Analyse sollen auch jene längerfristig wirksamen Entwicklungen und Faktoren berücksichtigt werden, die einerseits zu den Voraussetzungen für den jahrzehntelangen Krieg gehörten und andererseits kriegsverlängernd dazu beitrugen, dass der Friedensschluss erst 1648 möglich war. Dazu gehören die Gravamina der Konfessionsparteien, dynastische Interessen und Ambitionen verschiedener Akteure sowie politische Entwicklungen auch im außereuropäischen Bereich.
Prof. Armin Heinen, RWTH Aachen
Die Narrativen der Geschichtswissenschaft und die vielen Wege in den Ersten Weltkrieg – oder - Ehrenmänner in Zeitnot
Fünf gängige Erzählweisen werde ich untersuchen und anschließend meinen eigenen Deutungsansatz vorstellen. Konkret geht es um
§ die Erzählung von einem absichtsvoll herbeigeführten Krieg;
§ die Deutung des Kriegsausbruchs August 1914 als Resultat einer überbordenden Dynamik des internationalen Systems;
§ die Interpretation des Ersten Weltkrieges als Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte, so dass sich traditionelle Eliten in die Enge getrieben fühlten und anomisch reagierten;
§ den Ersten Weltkrieg als Ausdruck einer kulturellen Krise, welche vor allem adelige und bürgerliche Schichten erfasst hat
§ die Julikrise als Überforderung der politisch Handelnden.
Alle fünf Ansätze schließen sich nicht notwendigerweise aus, haben, so meine Überlegung, Stärken und Schwächen. Was sie nicht erklären können, ist die bewusste Option der Verantwortlichen für den Untergang, ist das Wissen darum, dass der Krieg auch den Siegern viel mehr abverlangen würde als vertretbar war. In Europa würden die Lichter durch einen Weltkrieg für lange Zeit ausgehen, das war allen Militärs und den meisten Politikern der Großmächte bewusst. Trotzdem votierten sie für den Krieg. Das muss erklärt werden.
Die Menschen lebten um 1914 in vielen Welten gleichzeitig. Sie handelten in vielen gesellschaftlichen Räumen parallel. Sie verfolgten ihre Ziele rational. Sie waren erkennbar emotional. Sie waren in der Julikrise überfordert. Sie suchten ihre Ehre zu verteidigen, auch die der Nation. In den Quellen finden sich deshalb viele Bedeutungselemente nebeneinander, selbst in einzelnen Textabschnitten, selbst in einzelnen Sätzen. Deren Vielfalt gilt es offenzulegen und ernst zu nehmen.
Im Kern, so meine Argumentation, war der Erste Weltkrieg Ausdruck der Modernisierungskrisen, die Europa um 1914 durchlebte. Der nach 1900 auf den Kontinent zurückwirkende Imperialismus, der seit 1912 sich weiter intensivierende Rüstungswettlauf, die nationalen Selbstbestimmungskämpfe in Südosteuropa hatten ihre kritische Phase erreicht. Altes und Neues kamen zusammen, während das Allerneueste, das den Krieg hätte vielleicht verhindern können, für das politische Alltagsleben noch keine Rolle spielte – die gegenseitigen Besuche der Politiker mit Flugzeugen etwa, ein rotes Telefon oder die Bereitstellung genauer Informationen über Stärken und Schwächen aller Beteiligten. In mancher Hinsicht gehört der Erste Weltkrieg eher dem 19. Jahrhundert zu als dem 20., gerade auch in Hinblick auf die Bewunderung des Heroischen, gerade auch in Hinblick auf die vielfach geteilten Ehrvorstellungen. Wenn ich Recht habe, waren die handelnden Politiker und Militärs keine wirklichen Kriegsverbrecher, keine generell überforderten Politiker, keine Schlafwandler. Sie lebten in einer Zwischenzeit, handelten rational, fühlten sich überfordert, akzeptierten den Krieg, sahen die Ehre der Nation bedroht. Sicherlich waren sie Narzissten – und auf jeden Fall Ehrenmänner in Zeitnot.
Prof. Dr. Florian Bieber, Universität Graz
Der Weg in den Krieg. Unausweichbarkeit, Demokratisierung und Kriegsursachen in Jugoslawien.
Der Zerfall Jugoslawiens wurde oftmals als unausweichbar bezeichnet. Der Beitrag wird der Frage nachgehen, welche Entwicklungsszenarien für Jugoslawien vorstellbar waren, und ob tatsächlich Zerfall und Krieg unvermeidbar waren. Insbesondere wird hier die Frage im Vordergrund stehen, warum es keine starken gesamtstaatlichen politischen Alternativen und Ordnungsvorstellungen gab. Das Paradox, dass bis kurz vor Ende des Staates in Umfrage die wenigsten Bürger eine Auflösung des Landes befürworteten und trotzdem in folge der Wahlen in den Republiken eine Radikalisierung stattgefunden hat, die nicht nur in der Unabhängigkeit der meisten Republiken mündete, aber auch in dem Missbrauch der Armee im Krieg gegen die Unabhängigkeit Kroatiens und Bosniens und Herzegowina. Um diese Dynamiken darzustellen, wird der Beitrag Umfragen in Jugoslawien vor Kriegszerfall, Wahlergebnisse und Radikalisierungsdynamiken aufzeigen.
Zum Schluss wird das Referat über die Risiken von Systemwandel in multinationalen Staaten reflektieren, insbesondere von autoritären zu demokratischen Strukturen.